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Verräterische Zellen

Eine Blutuntersuchung soll künftig helfen, Alzheimer zu diagnostizieren – bislang sind dafür aufwendige Tests erforderlich. Mit Big-Data-Methoden und viel Handwerk suchen Forschende am DZNE nach auffälligen Mustern im Blut von Kranken.

Das Rätsel ist in einer unscheinbaren Box ausgebreitet – einer Kassette mit mehr als 220.000 mikroskopisch kleinen Vertiefungen. In jeder von ihnen liegt ein winziger Bestandteil vom Blut, das zuvor einer Patientin oder einem Patienten abgenommen worden ist. Für Dr. Anna Aschenbrenner und Dr. Marc Beyer ist das der Ausgangspunkt ihrer Arbeit: Die Biomedizinerin und der Arzt suchen nach Indizien, die anzeigen, ob dieser Patient Alzheimer hat – und wenn ja, in welchem Stadium.Sie schauen sich viele Tausend einzelne Zellen an, um dabei mögliche gemeinsame Muster zu entdecken. Denn diese könnten künftig als Grundlage für eine Alzheimer-Diagnose dienen, die auf Blutproben beruht.

„Wir gehen davon aus, dass die Entzündungen im Gehirn, die bei Alzheimer auftreten, mit klaren Spuren in den Immunzellen des Blutes einhergehen“, erklärt Anna Aschenbrenner den Ansatz.

Bis jetzt lässt sich Alzheimer vor allem im Gehirn selbst oder im Nervenwasser nachweisen. Dabei spielen primär Amyloid und Tau eine Rolle: zwei Proteine, die im Gehirn von Patientinnen und Patienten typische Verklumpungen bilden. „Unsere Hypothese ist, dass wir im Blut spezifische Kennzeichen der Erkrankung finden, die nicht zwingend etwas mit Tau und Amyloid zu tun haben“, sagt Marc Beyer. „Im Blut passiert infolge der Erkrankung etwas und wir wollen genau diese Spuren identifizieren.“

Technische Herausforderungen

Die Suche nach diesen „kollateralen Folgen“ der Erkrankung, wie die beiden Forschenden sie nennen, ist typisch für einen vergleichsweise neuen Ansatz in der Medizinforschung: Die sogenannte Systemmedizin basiert auf der Erkenntnis, dass sich jede Krankheit auf den ganzen Körper auswirkt und man ihre Spuren also beispielsweise im Blut nachweisen kann. Neu ist diese Herangehensweise vor allem deshalb, weil sie gewaltige technische Herausforderungen mit sich bringt: Es geht um Unmengen von Daten, und die lassen sich nur mithilfe von speziellen Algorithmen und Hochleistungsrechnern überblicken. „Die Entwicklung auf diesem Feld verläuft rasant“, sagen Anna Aschenbrenner und Marc Beyer. Das DZNE in Bonn, an dem sie beide forschen, gehört bundesweit zu den Pionieren im Bereich der Systemmedizin.

In ihren Laboren arbeiten die dortigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit einer hochkomplexen Mischung aus Hightech und Handwerk. Am Anfang der Untersuchungen wird beispielsweise mit der Hand pipettiert, spätere Schritte übernehmen Roboter. Bei der Suche nach Alzheimer-Indikatoren im Blut konzentrieren sich die Forschenden auf bestimmte Immunzellen, nämlich die weißen Blutkörperchen. Sie werden separiert, danach werden die winzigen Molekülmengen vervielfältigt und schließlich regelrecht ausgelesen. Spezielle Geräte analysieren präzise, in welcher Zelle welche Gene aktiv sind. Das ergibt einen individuellen Fingerabdruck, der in der Forschung „Transkriptom“ genannt wird. Das ist ein Datensatz, der die Eigenschaften der Zelle präzise abbildet.

Transkriptome

Die Besonderheit: Dieses Transkriptom wird für jede Zelle individuell erstellt. Dadurch lässt sich ermitteln, in welchen konkreten Zellen es zu Auffälligkeiten kommt. Für diese Analyse wird künstliche Intelligenz benötigt: Sie durchforstet viele Gigabytes an Daten und fischt exakt jene Informationen heraus, die für die Lösung des Rätsels wichtig sein können. Wenn also im Transkriptom bei allen Kranken bestimmte Muster auftauchen, aber bei gesunden Probandinnen und Probanden nicht, könnten diese als winziges Detail die sprichwörtliche Stecknadel im Heuhaufen sein, nach der die Forschenden suchen.

Wie gut sich aus dem Blut Informationen über Gesundheit und Krankheit herauslesen lassen, haben Fachleute des DZNE in der Vergangenheit schon mehrfach bewiesen. Leukämie konnten sie daran erkennen, welche Gene in Blutzellen aktiv sind, und auch bei COVID-19 gewannen sie dank ihrer Technik wichtige Einblicke in den Krankheitsverlauf – allesamt Erfolge, die in Fachkreisen weltweit für Aufmerksamkeit sorgten.

Im Vergleich zu der Herausforderung, vor der die Forschenden jetzt stehen, waren das aber bloße Fingerübungen. Alzheimer über das Blut nachzuweisen, ist noch mal deutlich komplizierter - zumal Aschenbrenner und Beyer einen vollig anderen Ansatz verfolgen, als beim Nachweis sogenannter Biomarker, mit dem es schon reichlich Erfahrung gibt (siehe Kasten „Andere Spuren"). „Bei Infektionskrankheiten und Leukämie gibt es eine direkte Verbindung zu den weißen Blutkörperchen", erklärt Marc Beyer. Bei Alzheimer sucht er mit seinen Kolleginnen und Kollegen nach einer indirekten Verbindung: Die Prozesse im Gehirn haben keinen direkten Einfluss auf das Blut und das Immunsystem des Gehirns funktioniert unabhängig vom Immunsystem im restlichen Körper. Alle Spuren im Blut wären also lediglich ein indirekte Abbild, quasi ein Spiegel der Prozesse im Kopf. Manche Skeptiker bezweifeln deshalb, dass eine Diagnose möglich ist, ohne die unmittelbar befallenen Organe zu untersuchen.

Andere Spuren

Forschende des DZNE sind im Blut schon auf verschiedene Anzeichen für Alzheimer gestoßen. Sie fanden beispielsweise heraus, dass die Konzentration eines bestimmten Eiweißstoffes, der abgestorbenen Nervenzellen entstammt, bereits mehr als zehn Jahre vor dem Auftreten von Demenz-Symptomen ansteigt. Ähnliche Auffälligkeiten entdeckten sie bei sogenannten Entzündungsmarkern. Diese Befunde eröffnen Perspektiven für die Frühdiagnose. Und sie könnten auch helfen, neue Medikamente bereits im Frühstadium einer Alzheimer-Erkrankung zu testen.

Beyer und Aschenbrenner hingegen sind überzeugt, dass die Chancen des Verfahrens weit größer sind als das Risiko zu scheitern - und hoffen allein schon aus ganz pragmatischen Gründen auf einen Durchbruch: „Ans Blut kommen wir gut heran, an das Gehirn nicht", sagt Beyer. Tatsächlich ist die Medizin bislang auf komplizierte Verfahren angewiesen, um Alzheimer zu diagnostizieren. Idealerweise nehmen sie Bioproben von Patientinnen und Patienten - also beispielsweise Nervenwasser, das aber über eine aufwendige und unangenehme Punktion entnommen werden mUss. Ließe sich Alzheimer nachweisen, indem die Genaktivitäten im Blut untersucht werden, wäre das eine gewaltige Vereinfachung.

Die richtigen Blutproben

Die Fachleute des DZNE, die diese Indikatoren im Blut suchen, müssen dafür eine entscheidende Hürde überwinden: Sie müssen die richtigen Blutproben auswählen, in denen sie nach den verräterischen Kennzeichen suchen. „Das klingt erst einmal trivial“, sagt Anna Aschenbrenner, „ist aber eine der wirklich kritischen Stellen in der Forschung.“ Mit ihren Kolleginnen und Kollegen greift sie auf die DELCODE-Studie zurück, bei der das DZNE federführend ist: Rund 1.000 Probandinnen und Probanden werden darin über Jahre hinweg untersucht, einige mit Demenzsymptomen, andere ohne. Und: Sie alle geben regelmäßig Blutproben ab. Die bilden jetzt die Grundlage für die Suche nach einem Alzheimer-Indikator im Blut.

„Problem Nummer eins ist, dass ältere Menschen oft an einer Reihe weiterer Krankheiten leiden, die sich ihrerseits auch im Blut widerspiegeln. Die müssen wir also aus unseren Daten herausrechnen“, erklärt Marc Beyer. „Und das zweite Problem ist, dass wir die Proben von den exakt richtigen Probandinnen und Probanden auswerten – wir müssen genau wissen, ob sie wirklich an Alzheimer leiden und nicht an einer Zwischen- oder Mischform. Und wir müssen wissen, in welchem Stadium sie sich befinden.“ Nur so kann der Algorithmus tatsächlich übereinstimmende Muster finden.

Noch ist es nicht gelöst, das Rätsel, das auf die mehr als 220.000 Vertiefungen der Kassetten im Labor verteilt ist. Aber mit jeder Untersuchung gehen die Forschenden ihm ein Stückchen weiter auf den Grund – mit Hilfe von Hightech und von Handwerk.

Text: Kilian Kirchgeßner, der Artikel "Verräterische Zellen" erschien bereits im Magazin SYNERGIE der DZG (Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung

 

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