Der Nikolaus: ein Super-Ager

Interview mit Neurowissenschaftlerin Anne Maass

Er ist eine Berühmtheit, besondere Kennzeichen: Rauschebart und rote Arbeitskleidung. Traditionell mit Bischofshut, bisweilen auch mit roter Zipfelmütze unterwegs. Sein Alter ist biblisch. Und dennoch vollbringt er jedes Jahr geistige und körperliche Höchstleistungen: In nur einer Nacht besucht er unzählige Haushalte und befüllt Stiefel, Socken und Gabenteller. Sorgsam achtet er darauf, dass jedes Geschenk im richtigen Fußkleid oder auf dem richtigen Geschirr landet. Verwechslungen oder gar, dass jemand vergessen wurde – von solchen Vorfällen wird nie berichtet. Ein topfitter Senior sozusagen, neudeutsch: „Super-Ager“. Was hat es damit auf sich? Ein Gespräch mit Dr. Anne Maass, Neurowissenschaftlerin am DZNE-Standort Magdeburg  und Gastprofessorin an der Universität Magdeburg, über den Nikolaus, das Gehirn und das Altern.

Frau Maass, der Nikolaus ist ein Beispiel für perfektes Organisationstalent. Schon lange vor dem Aufkommen von moderner Buchführung und Planungssoftware hat er es verstanden, komplexe Aufgaben zu bewältigen. Allein nur mit Köpfchen und güldenem Buch. Und das im hohen Alter. Ist er ein Super-Ager?

Oh ja! Der Nikolaus erfüllt definitiv die Kriterien für Super-Aging.

Und die wären?

Für „Super-Ager“ gibt es verschiedene, leicht unterschiedliche Definitionen. Wir verstehen darunter Menschen im Alter über 80 Jahre mit der geistigen Fitness von 50- bis 60-Jährigen. Dabei sollte man sich bewusst machen, dass der Nikolaus unter dem Alias „Bischof von Myra“ bereits im vierten Jahrhundert nach Christi unterwegs war. Damit fällt er in die relevante Altersgruppe und dass er geistig fit ist, steht außer Frage. Sonst könnte er seinen Job nicht machen. Bei unseren Gedächtnistests würde er vermutlich außergewöhnlich gut abschneiden.

Was sind das für Tests?

Die Probanden bekommen zum Beispiel eine Liste mit Wörtern vorgelegt, die sie sich merken müssen, um sie später abrufen zu können. Dann gibt es weitere Tests, in denen sie logische Aufgaben möglichst schnell lösen müssen. Alle diese Untersuchungen sind standardisiert. Daraus können wir objektiv ablesen, ob jemand besonders fit ist und somit die Kriterien für Super-Aging erfüllt.

Warum erforschen Sie Super-Aging?

Mit dem Alter steigt allgemein das Risiko für Demenz. Super-Ager sind offensichtlich dagegen gewappnet. Wir wollen verstehen, warum das so ist und was wir daraus lernen können, damit wir alle möglichst gesund alt werden.

Wie groß ist Ihre Studie?

Wir haben Anfang 2022 mit der Rekrutierung begonnen und inzwischen 19 Super-Ager in unsere Studie eingeschlossen. Es ist gar nicht so leicht, solche Menschen zu finden. Langfristig möchten wird 50 Super-Ager rekrutieren sowie 50 Probanden, die zwar auch über 80 Jahre alt sind und kognitiv gesund, aber keine Super-Ager. Dazu kommen dann nochmal 200 weitere Probanden im Alter zwischen 60 und 79. Alle Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer möchten wir über mehrere Jahre hinweg regelmäßig untersuchen. Denn wir wollen erfassen, ob und wie sich ihre kognitive Leistung und ihr Gehirn im Laufe der Zeit verändern.

Mit dem Alter lässt die geistige Fitness ja grundsätzlich nach. Selbst wenn man nicht von Demenz betroffen ist. Warum ist das so?

In der Tat beginnt der Abbau schon etwa ab dem 60. Lebensjahr. Nach heutigem Wissenstand kommen dabei verschiedene Dinge zusammen. Einerseits verlieren wir mit dem Alter Gehirnzellen. Das ist ein natürlicher Vorgang. Und Hirnzellen wachsen kaum nach, das geschieht nach heutigem Kenntnisstand nur in sehr eingeschränktem Maße in wenigen Regionen des Gehirns. Weiterhin lagern sich in Gehirnarealen, die für das Gedächtnis wichtig sind, bestimmte Proteine ab, die die Funktion der Nervenzellen stören. Außerdem gibt es mit höherem Alter oft krankhafte Veränderungen kleinster Hirngefäße, die die Blutversorgung einschränken. Hinzukommt, dass mit dem Alter die Wartungsmechanismen des Gehirns nicht mehr so gut funktionieren. Alle diese Effekte beeinträchtigen auch die Netzwerke des Gehirns. Es gibt dann weniger Verbindungen oder zumindest weniger effektive Verbindungen. Hirnzellen existieren ja nicht isoliert, sondern sind mit vielen anderen Zellen verknüpft. Die Funktion des Gehirns beruht auf solchen Verschaltungen. Werden diese strapaziert, leidet die geistige Fitness.

Und Super-Ager sind vor diesen Alterserscheinungen gefeit?

In gewissem Maße. Das zeigt sich zum Beispiel beim Hirnvolumen: Zwar bedeutet mehr Volumen nicht automatisch mehr Hirnleistung. Dennoch ist das Volumen ein relevantes Merkmal und bei Super-Agern sind Hirnbereiche, die Gedächtnis und Emotionen betreffen im Durchschnitt größer als bei gleichaltrigen Menschen. Tatsächlich haben Studien gezeigt, dass sie mit dem Alter vergleichsweise weniger Nervenzellen und damit auch weniger Hirnvolumen verlieren. Darüber hinaus könnte es aber auch sein, dass diese Hirnbereiche bei Super-Agern grundsätzlich größer sind und sie somit eine Art Hirnreserve besitzen. Diese Fragen sind noch offen. Die Erforschung von Super-Aging ist ein noch junges Feld.

Sie sprachen auch von Wartungsmechanismen des Gehirns …

Hier geht es um eine komplexe, neurobiologische Maschinerie mit vielen Rädchen. Aber ein Aspekt ist sicherlich die Beseitigung von Schadstoffen. Deshalb suchen wir die Gehirne von Super-Agern nach winzigen Proteinablagerungen ab, die sich - wie schon erwähnt - in den Gedächtnisarealen ansammeln können. Wir nutzen dafür einen Hirnscanner, den es nur an speziellen Kliniken und Forschungseinrichtungen gibt. Die Proteinablagerungen, die uns interessieren, sind typisch für Alzheimer, treten aber auch bei gesunden Menschen im gewissem Umfang auf. Gibt es von diesen Proteinablagerungen jedoch zu viele, ist das ein Risikofaktor. Und es sieht bislang so aus, dass Super-Ager vergleichsweise wenige solcher Ablagerungen im Kopf haben. Mit letzter Sicherheit können wir das noch nicht sagen, unsere Studie läuft noch.

Gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen?

Eine interessante Frage. Frauen haben im Alter ein höheres Risiko für Demenz als Männer. Warum das so ist, weiß man nicht genau. Man vermutet, dass unter anderem Unterschiede im Hormonhaushalt eine Rolle spielen. Bei Frauen konkret der Rückgang an Östrogen nach den Wechseljahren. Aber auch ein gesundes Herzkreislauf-System ist wichtig für ein leistungsfähiges Gehirn. Und auch hier sind Männer biologisch im Vorteil. Ob anderseits eher Frauen als Männer das Zeug zum Super-Ager haben, ist noch ungewiss.

Liegt Super-Aging in den Genen?

Es gibt Hinweise, dass Gene eine Rolle spielen könnten. Allerdings haben Super-Ager die gleichen typischen Risikogene für Alzheimer wie andere Menschen auch. Die bisher untersuchten Super-Ager-Gruppen sind jedoch meist sehr klein, die Datenlage daher noch gering. Vermutlich wird uns die Fähigkeit zum Super-Aging nicht komplett in die Wiege gelegt, sondern ist ein Zusammenspiel von noch unbekannten genetischen Faktoren und Lebensstil. Auch die eigene Lebensgeschichte scheint eine wichtige Rolle zu spielen. Jedenfalls sind Super-Ager für ihr Alter nicht nur geistig, sondern auch motorisch überdurchschnittlich fit, meist lebensfroh und sozial aktiv. Es scheint zudem, dass Super-Ager weniger Ängste haben und im Laufe ihres Lebens weniger seelische Erkrankungen, wie etwa Depressionen, erleiden mussten.

Und die Lehren daraus?

Aus der bisherigen Datenlage kann man nur vorläufige Schlüsse ziehen. Grundsätzlich ist es aber wissenschaftlicher Konsens, dass jeder und jede etwas dafür tun kann, um im Alter geistig fit zu bleiben. Es gibt kein Patentrezept, doch man kann Risikofaktoren minimieren. Das ist schon einiges. Denn man geht davon aus, dass sich dadurch rund 40 Prozent aller Demenzerkrankungen vermeiden lassen oder man den Ausbruch von Demenz zumindest hinauszögern kann. Wichtige Risikofaktoren für Demenz sind insbesondere Bluthochdruck, Übergewicht, Diabetes, Rauchen und übermäßiger Alkoholkonsum. Super-Ager haben offenbar zeitig angefangen, vieles davon zu beherzigen. Es ist zwar nie zu spät, aber wichtige Weichen für gesundes Altern werden vermutlich schon in den mittleren Lebensjahren gestellt. Das DZNE untersucht solche Aspekte ja im Rahmen der „Rheinland Studie“, einer Langzeituntersuchung in Bonn, die auf Jahrzehnte angelegt ist.

Und die Ernährung?

Die Ernährung hat komplexe Auswirkungen auf unseren Körper. Die Effekte sind sehr individuell und bei weitem noch nicht alle verstanden. Darmflora, Stoffwechsel, Immunsystem, Fettreserven – das Gehirn ist da nur ein Aspekt. Grundsätzlich gilt leichte Kost mit viel Obst, Gemüse, Fisch, Hülsenfrüchten, Getreideprodukten und Olivenöl, dafür mit wenig Fleisch, als gut für den Kopf. Das kennt man als „mediterrane Ernährung“. Diverse Studien deuten darauf hin, dass eine solche Diät für die geistige Fitness in der Tat förderlich ist. In Hinblick auf die beginnende kalte Jahreszeit würde ich noch Nüsse und Trockenfrüchte nennen. Aber man sollte davon keine Weihnachtswunder erwarten, sondern es eher auf den Genuss ankommen lassen.

Was ist mit Gehirn-Jogging?

Darunter versteht man ja im Allgemeinen so etwas wie Sudoku oder Kreuzworträtsel lösen. Wer das regelmäßig übt, ist irgendwann top darin, trainiert damit aber nur eine Inselbegabung. Das ist nicht verkehrt, bringt aber wenig in Hinblick auf die allgemeine geistige Fitness. Sinnvoller sind komplexe Aufgaben, zum Beispiel eine Fremdsprache lernen. Als besonders effektiv gilt die Kombination von geistigem und körperlichem Training, im besten Falle in der Gruppe mit anderen. Wie zum Beispiel beim Tanzen. Hier muss man sich Schrittfolgen merken, mit dem Partner oder der Partnerin interagieren und bewegt sich auch noch dazu. Prinzipiell geht das auch im hohen Alter. Im Übrigen gilt: Gut fürs Herz ist auch gut für den Kopf. Und zwar in mehrfacher Hinsicht. Ein fittes Herzkreislauf-System ist gut für die Hirndurchblutung – und wenn sich der Blutdruck im Normalbereich bewegt, senkt dies das Risiko für einen Verschleiß der Hirngefäße und für Schlaganfall. Auch ein abwechslungsreiches Leben und die damit einhergehende Herausforderung, sich immer wieder auf Neues einstellen zu müssen, fördert die geistige Widerstandskraft. Der Nikolaus ist dafür ein Paradebeispiel: Mit Sicherheit hat er im Laufe der Jahrhunderte viel Routine entwickelt, aber es kommen dennoch immer wieder neue Kinder und auch Erwachsene hinzu, die er besuchen muss. Das erfordert schon viel Flexibilität in seiner Routenplanung.

Meinen Sie, die führt dieses Jahr auch bei Ihnen vorbei?

Ich hoffe doch, ich werde jedenfalls meine Schuhe vor die Tür stellen. Und vielleicht lässt sich der Nikolaus ja sogar auf ein paar Untersuchungen ein. Ich schätze, wir könnten einiges von ihm lernen.

 

Dezember 2023, Interview: Marcus Neitzert

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