„Im höheren Alter wirkt sich die Bilingualität positiv auf die Struktur des Gehirns und die Kognitionsfähigkeit aus“

Ein Interview über den Nutzen der Zweisprachigkeit.

Wer in jungen Jahren täglich zwei Sprachen spricht, stärkt seine Reserven gegen Demenz. Das haben Forschende des DZNE in einer Studie nachgewiesen. Dabei wurde die geistige Leistungsfähigkeit getestet und das Gehirn per Magnetresonanz-Tomographie untersucht. Ein Interview mit den Altersforschern Elizabeth Kuhn und Michael Wagner über den Nutzen der Zweisprachigkeit, den Medienwirbel rund um die Studie – und darüber, warum es wohl wenig hilft, nach dem Renteneintritt noch schnell einen Spanischkurs zu belegen.

Eigentlich müssten Sie beide doch über einen perfekten Schutzschild gegen Demenz verfügen, wo Sie täglich in einem internationalen Umfeld in verschiedenen Sprachen arbeiten, oder?

Michael Wagner: (lacht) Hoffen wir einfach mal, dass es sich eines Tages lohnen wird!

Sie haben festgestellt: Wer zweisprachig lebt, baut dadurch einen Schutz vor Demenz auf.

Elizabeth Kuhn: Entscheidend daran sind aber tatsächlich zwei Faktoren. Erstens, wie häufig eine Zweitsprache gesprochen wird, im Extremfall jeden Tag: dann sind die positiven Effekte auf die kognitive Leistung stärker. Und zweitens haben wir zeigen können, dass es auf die Lebensphase ankommt. Wer sich im frühen Leben in einem zweisprachigen Umfeld bewegt, profitiert am meisten davon – wir reden hier von der Jugend und dem frühen Erwachsenenleben. Im höheren Alter wirkt sich diese frühe Bilingualität dann positiv auf die Struktur des Gehirns und die Kognitionsfähigkeit aus. Menschen, die früh mehrere Sprachen gelernt haben, sind geistig fitter. Das zeigen die Kognitionstests, die wir verwendet haben. Durch diese geistige Fitness haben sie sich einen gewissen Schutz vor Demenz aufgebaut. 

Hat das Ergebnis Sie überrascht?

Kuhn: Wir haben schon damit gerechnet, dass Bilingualität eine positive Auswirkung haben wird. Das haben übrigens ja auch schon andere Studien nahegelegt. Wir haben aber als erste diese Unterscheidung zwischen den Lebensphasen vorgenommen: Wir haben die jüngeren Jahre von 13 bis 30, die mittleren Jahre von 30 bis 65 und die späteren Jahre ab 65 jeweils getrennt betrachtet. Wir waren die ersten, die das in die Untersuchung mit einbezogen haben, und dass die Effekte so stark zu Tage treten würden, haben wir nicht erwartet.

Moment: Es ist ja keine neue Erkenntnis, dass durch starke Nutzung des Gehirns eine sogenannte kognitive Reserve aufgebaut wird. Ist die Bilingualität nicht einfach nur eine von vielen Arten, eine solche Reserve aufzubauen?

Wagner: Auf einer oberflächlichen Ebene kann man tatsächlich sagen, dass alle Aktivitäten im frühen Leben – ob man nun Schach spielt, ein Instrument lernt oder viel durch die Welt reist – dafür sorgen, dass man im Alter ein höheres Leistungsniveau hat und es deshalb länger dauert, bis sich eine Demenz etwickelt. Es gab aber in den vergangenen Jahren unheimlich viel Forschung zum Thema der kognitiven Reserve, und man ist dazu übergegangen, die Widerstandsfähigkeit gegen den pathologischen Prozess zu betrachten.

Was bedeutet das?

Wagner: Man kann nachweisen, dass der pathologische Prozess – also das Fortschreiten der Krankheit – die kognitiven Fähigkeiten eines Patienten nicht so stark beeinträchtigt, wenn er mehr Reserven mitbringt. Das haben wir aber bei unserer Studie tatsächlich nicht untersucht: Wir haben keine Indikatoren des pathologischen Prozesses mit aufgenommen.

Liegt denn der positive Effekt tatsächlich an der Bilingualität selbst? Wer täglich zwei Sprachen spricht, lebt ja meistens in einer Situation, die schon für sich genommen herausfordernder ist – etwa durch ein Studium im Ausland oder eine Berufstätigkeit in einem fremden Land.

Wagner: In der Epidemiologie wird das als Konfundierung durch bekannte oder auch durch unbekannte Drittvariablen bezeichnet: An der Bilingualität würde sich dann in unserem Beispiel zwar ein Ergebnis festmachen lassen, das aber in Wirklichkeit nur ein Indikator für etwas ganz anders ist, das sich als eigentliche Ursache dahinter verbirgt. Wir haben bekannte Drittvariablen wie etwa die Bildung statistisch kontrolliert. Über andere Variablen kann man lange spekulieren.

Kuhn: Aber unser Ergebnismuster mit stärkeren Effekten früher Zweisprachigkeit spricht eher dagegen, dass unbekannte und nicht kontrollierte Drittvariablen unsere Ergebnisse verfälscht haben. Das Leben in einem anderen Land etwa dürfte auch im höheren Lebensalter noch stimulierend sein – und dann hätte man gleich starke Effekte bei später Mehrsprachigkeit erwartet. Deshalb sind wir recht sicher, dass die Zweisprachigkeit tatsächlich der Faktor ist, der für die Ergebnisse verantwortlich ist – und nicht bloß ein Indikator für etwas anderes.

Sie stützen sich in Ihrer Studie auf Daten aus der DELCODE-Studie, bei der am DZNE rund tausend Probanden über viele Jahre hinweg begleitet werden. Haben Sie beim Design dieser Studie schon gezielt eingeplant, die Bilingualität zu untersuchen?

Wagner: Eine solche Kohortenstudie hat immer zahlreiche Ziele, bei DELCODE ging es unter anderem um Risiko- und Schutzfaktoren bezüglich einer kognitiven Verschlechterung im Alter. Es gibt bei DELCODE einen Fragebogen, den wir „Lifetime of Experice“ nennen. In ihm fragen wir die Probanden nach vielen verschiedenen Aspekten in ihrem Leben, und eben auch nach der Mehrsprachigkeit. Sie ist also ein Aspekt von vielen – aber wir klären ihn in ausreichender Tiefe, weil wir etwa danach fragen, wie oft eine zweite Sprache genutzt wird, in welchem Alter sie erlernt wurde und so weiter.

Bedeuten die Ergebnisse nicht, dass Migranten und Flüchtlinge viel weniger anfällig sein müssten für Demenz-Erkrankungen?

Wagner: Das ist unter bestimmten Bedingungen vielleicht richtig, aber der Migrantenstatus ist ja auch mit vielen anderen Faktoren assoziiert, vom oft niedrigeren sozioökonomischen Status über schlechtere Wohnbedingungen bis hin zu sozialem Stress. Deshalb lässt sich die Frage schwer beantworten. Aus unserer Studie jedenfalls lässt sich kein Befund dazu ableiten, weil an DELCODE nur Menschen mit guten Deutschkenntnissen teilnehmen – sonst würden sie die kognitiven Tests schon rein sprachlich nicht bewältigen können.

Ist das Thema der Bilingualität für Sie jetzt beendet oder forschen Sie weiter daran?

Kuhn: Wir wollen auf jeden Fall darauf zurückkommen – und zwar zu einem späteren Zeitpunkt, wenn in der DELCODE-Studie weitere Daten zur Verfügung stehen. Wir wollen vor allem untersuchen, ob die Zweisprachigkeit den Probanden auf lange Sicht hilft, wenn es darum geht, die Auswirkungen von pathologischen Prozessen zu verlangsamen. Die Daten, die wir dafür benötigen, erheben wir gerade.

Ihre Studie hat international Aufmerksamkeit erregt: Die New York Times hat berichtet, Sie haben ein Interview in der BBC gegeben – wodurch erklären Sie sich das Interesse?

Wagner: Alles, was mit Schutzfaktoren vor Alzheimer zu tun hat, weckt große Neugier und natürlich auch Hoffnung. Alle wollen wissen, was hilft und was sie selbst tun können, um sich vor einer Demenz zu schützen.

Konnten Sie in den Interviews denn gute Nachrichten übermitteln?

Wagner: Ja, unsere Studie zur Bilingualität macht natürlich Mut. Aber ich muss leider auch sagen: Wer sich nach dem Renteneintritt auf einen Spanisch-Kurs stürzt und Vokabeln paukt, um gegen eine künftige Demenz gewappnet zu sein – dem wird das vermutlich nicht helfen, zu dem Zeitpunkt ist es einfach schon zu spät. Aber weiterhin früher erlernte Sprachen zu sprechen, sich generell geistig und körperlich aktiv zu halten, ist in jedem Falle gut.

Zu den Personen
Prof. Dr. Michael Wagner leitet die Arbeitsgruppe Neuropsychologie am DZNE-Standort in Bonn und an der Universitätsklinik Bonn. Er untersucht Risikofaktoren für die Entwicklung von Demenzen und neue Verfahren, um kognitive Störungen schon in der Frühphase von Alzheimer besser diagnostizieren zu können.
Dr. Elizabeth Kuhn arbeitet als Post-Doc am DZNE in Bonn. Die Französin ist Gesundheitswissenschaftlerin und zusammen mit dem ehemaligen DZNE-Post-Doc Tommaso Ballarini eine der zwei Erstautoren der Studie über die Bilingualität.

 

Originalveröffentlichung
Linking early-life bilingualism and cognitive advantage in older adulthood
Tommaso Ballarini, Elizabeth Kuhn et al.
Neurobiology of Aging (2023)
DOI: https://doi.org/10.1016/j.neurobiolaging.2022.12.005 

 

Juni 2023

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