Leibniz-Preis 2016: Nervenzellen mit „Bleifuß“

Den Nervenzellen des Rückenmarks fehlt die Fähigkeit zur Selbstheilung. Werden sie beschädigt, kommt es in der Regel zur dauerhaften Lähmung oder anderen Ausfällen. Am DZNE in Bonn forscht Frank Bradke daher nach Möglichkeiten, die Bremse zu lösen, die die Regeneration von Zellen des zentralen Nervensystems für gewöhnlich verhindert. Der Neurobiologe hofft, dass diese Studien der Behandlung von Querschnittsverletzungen langfristig neue Wege bereiten. Bradke erhielt für seine richtungsweisenden Arbeiten im März 2016 den mit 2,5 Millionen Euro dotierten Leibniz-Preis.

Nervenbahnen schlängeln sich durch den menschlichen Körper ähnlich der Verkabelung eines Computernetzwerkes. Steuersignale gelangen so vom Gehirn bis in die Zehenspitzen – und Sinneseindrücke strömen in Gegenrichtung zurück. Auch Darm, Herz und weitere Organe sind an dieses Nervengeflecht angeschlossen. Es sorgt dafür, dass wir uns bewegen, unsere Umwelt wahrnehmen können und regelt - oft unbewusst - nahezu jede Funktion des menschlichen Körpers. Wie bei einer Stafette von Relaisstationen werden dazu elektrische Impulse von Nervenzelle zu Nervenzelle weitergegeben. Wird diese Nervenleitung beschädigt, kann das drastische Folgen haben. Das Gehirn und beispielsweise die Muskeln mögen intakt sein – doch ist die Verbindung zwischen ihnen gestört, dann lassen sich die betroffenen Muskeln nicht mehr gezielt steuern, eventuell bleiben sie sogar gelähmt.

Eine Frage der Position

Ob sich verletzte Nervenzellen erholen, hängt allerdings wesentlich von ihrer Lage ab. In Gliedmaßen und Rumpf verfügen sie über das Talent zur Selbstheilung. Zwar werden lädierte Nervenzellen nicht etwa durch neue ersetzt. Aber sie können aussprießen und so neue Verknüpfungen mit anderen Nervenzellen eingehen. Deshalb kann selbst eine abgetrennte und wieder angenähte Hand ein gewisses Maß an Empfindsamkeit und Beweglichkeit zurückerlangen. Doch den Zellen des zentralen Nervensystems – Gehirn und Rückenmark – fehlt diese Fähigkeit zur Regeneration. Warum? Und was lässt Nervenzellen wachsen und wie könnte man ihre Wiederherstellung unterstützen?

Lange Leitungen

Seit rund 25 Jahren befasst sich Frank Bradke mit diesen Fragen. Sein besonderes Interesse gilt den „Axonen“: Jenen Fortsätzen, über die Nervenzellen miteinander Kontakt halten. Im engen Raum des Gehirns müssen sie nur relativ kurze Strecken überbrücken. Anders im Rückenmark: Hier sind manche Axone mehr als ein Meter lang. Werden diese Leitungen beschädigt oder gar durchtrennt, ist die zelluläre Kommunikation gestört.

Bradke und seine Mitarbeiter fanden heraus, dass für das Wachstum der Axone die sogenannten Mikrotubuli eine treibende Rolle spielen. Diese röhrenförmigen Proteinfilamente sind Bestandteil des zellulären Skeletts, das den Axonen Form und Stabilität verleiht. Zugleich dienen sie als Transportbahnen für Botenstoffe und andere Substanzen.

 

Induzierter Wachstumsschub

In Laborstudien gelang den Forschern der Nachweis, dass bestimmte Krebsmedikamente die Mikrotubuli zum Wachsen stimulieren. Dadurch treiben auch die Axone wieder aus. Überdies stellten sie fest, dass diese Pharmaka die Vernarbung des umliegenden Gewebes verringern, was die Regeneration der Nervenzelle zusätzlich befördert. Eine dementsprechende Behandlung von Ratten mit Rückenmarksverletzungen verbesserte deutlich die Bewegungsfähigkeit der Tiere.

„Unser Ansatz läuft daraus hinaus, die Nervenzelle in einen übermütigen Autofahrer zu verwandeln, der sämtliche Stoppzeichen überfährt“, beschreibt Bradke die Forschungsstrategie seiner Arbeitsgruppe. „Diese Stoppzeichen sind beispielsweise Botenstoffe, die vom Narbengewebe ausgeschüttet werden, das die Nervenzelle umgibt. Auch in der Zelle selbst gibt es Mechanismen, die das Wachstum verhindern. Alle diese Stoppzeichen auszuhebeln, ist schwierig. Deshalb möchten wir verstehen, was das Wachstum der Axone antreibt. Diesen Motor möchten wir sozusagen tunen und die Wachstumsbremse lösen.“

Langer Weg zur Therapie

Bis Patienten von diesem Forschungsansatz profitieren, dürften jedoch noch Jahre vergehen. „Nach und nach verstehen wir immer besser, welche Mechanismen für die Regeneration der Nervenzellen entscheidend sind. Eine ideale Behandlungvon Rückenmarksverletzung sollte die Mikrotubuli zum Wachstum anregen und die Vernarbung verringern. Unser Bild von diesen Vorgängen ist aber noch lange nicht vollständig. Deshalb sind klinische Test oder gar eine Therapie noch nicht in greifbarer Reichweite. Bis dahin wird es sicher noch ein weiter Weg“, so Bradke.

Bildgalerie

Zur Person: Frank Bradke (Jahrgang 1969) studierte Biochemie an der Freien Universität Berlin und dem University College London. Während seiner Dissertation forschte er am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) in Heidelberg. Danach arbeitete er als Postdoc an der University of California in San Francisco und der University of Stanford. Von 2003 bis 2011 leitete er eine Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried. Im Jahre 2009 habilitierte er an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2011 ist Bradke ordentlicher Professor an der Universität Bonn und Senior-Gruppenleiter der Arbeitsgruppe „Axonales Wachstum und Regeneration“ am DZNE-Standort Bonn. Er ist gewähltes Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der Europäischen Organisation für Molekularbiologie (EMBO).

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