Neue Methode zur Zell-Untersuchung

Dank einer einzigartigen Technik können Tübinger Forschende wie bei einer Live-Übertragung verfolgen, was bei neurodegenerativen Erkrankungen in Gehirnzellen geschieht, wenn sie erkranken: In einem Forschungsprojekt, das nun startet, können sie menschliches Hirngewebe in der Petrischale gezielt altern lassen.

Mit einer einzigartigen Untersuchungsmethode wollen Tübinger Forschende herausfinden, welche Rolle die sogenannten Gliazellen im Gehirn bei der Entstehung von neurodegenerativen Erkrankungen spielen. Sie arbeiten dafür mit menschlichem Gewebe, das bei Operationen am Kopf entfernt werden muss. Diesen innovativen Ansatz unterstützt die amerikanische Chan Zuckerberg Initiative mit 1,6 Millionen US-Dollar. Beteiligt an der Studie sind das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, die Universität Tübingen, die Klinik für Neurologie an der Uniklinik RWTH Aachen sowie das DZNE.

Im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen hauchfeine Schnitte aus menschlichem Gewebe, die nur 300 Mikrometer dick sind. „Das ist gesundes Gewebe, das aber den Ärzten bei einer Operation an einem Hirntumor oder einem Epilepsieherd den Weg versperrt und deshalb entfernt werden muss“, sagt Studienleiterin Dr. Deborah Kronenberg-Versteeg, die am DZNE-Standort Tübingen, dort in der Arbeitsgruppe um Prof. Jucker, dem Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und der Universität Tübingen forscht. Die Besonderheit: Im Inkubator (Brutschrank für Gewebekulturen) laufen die zellulären Prozesse im Gewebe noch wochenlang weiter, auch lange nach der Entfernung aus dem Körper. Genau diese Zeit nutzen die Forschenden, wenn die Patientinnen und Patienten einverstanden sind.

Unter Hirnforschern hat sich in den vergangenen Jahren die Hypothese erhärtet, dass neuronale Fehlfunktionen vor allem durch Veränderung in den Gliazellen hervorgerufen werden. Gliazellen sind eine Art Hilfszellen, die rings um die Nervenzellen angeordnet sind. Sie versorgen die Nervenzellen mit Nährstoffen und allen anderen Substanzen, die sie für ihre Arbeit benötigen. Wenn diese Gliazellen nun nicht mehr fehlerfrei arbeiten, dann leiden darunter die Nervenzellen – und die sind für die Informationsverarbeitung im Gehirn zuständig. Dieser Kausalkette von den Hilfszellen zu den Nervenzellen gehen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jetzt nach.

Dazu untersuchen sie, was passiert, wenn sie die Zellen gezielt erkranken lassen. Sie träufeln auf das kultivierte Gewebe eine Flüssigkeit, die sogenannte Seeds enthält. Das sind kleine Klümpchen falsch gefalteter Eiweiße. In Nervenzellen rufen sie krankhafte Veränderungen hervor, an deren Ende eine neurodegenerative Erkrankung wie Alzheimer oder Parkinson steht. „Im Experiment fügen wir diese falsch gefalteten Proteine künstlich hinzu; bei Patientinnen und Patienten entstehen sie aber direkt im Körper“, sagt Deborah Kronenberg-Versteeg. „Diese Seeds verteilen sich wie bei einem Schneeballeffekt in kürzester Zeit über das gesamte Gewebe.“

In genau diesem Moment beginnt für sie und ihr Team die spannendste Phase: „Wir können live mitverfolgen, wie das Gewebe auf diesen Einfluss reagiert. Bilden sich Ablagerungen? Wie schnell geht das? Und auch: Kann junges Gewebe die falsch gefalteten Eiweiße besser abbauen als altes Gewebe?“ Dass sie mit Gewebeschnitten von realen Patientinnen und Patienten arbeiten, bringt gleichermaßen Vor- und Nachteile mit sich. Zu den Nachteilen zählt, dass die gewonnenen Erkenntnisse nur bedingt generalisierbar sind, weil das Gewebe hoch individuell ist. Andererseits stehen genau dadurch Proben von Menschen unterschiedlicher Altersstufen zur Verfügung. So lässt sich beispielsweise untersuchen, ob die Zellen von 30-Jährigen anders reagieren als diejenigen von 80-Jährigen – ob also die Fähigkeit des Gehirns, gut auf eine Pathologie zu reagieren, im Alter nachlässt.

„Wir sind dank unserer neu entwickelten Methode weltweit die einzigen, die sich diese Prozesse im humanen Gewebe direkt anschauen können“, sagt Kronenberg-Versteeg. Die Methode mit den Gehirngewebekulturen haben die beteiligten Forschenden selbst entwickelt. Dafür hatten sie bereits eine erste finanzielle Unterstützung der Chan Zuckerberg Initiative erhalten, die von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg und seiner Ehefrau Priscilla Chan ins Leben gerufen wurde. Weltweit wurden 30 Teams von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gefördert, um innovative Ideen im Bereich der neurodegenerativen Erkrankungen zu entwickeln. Anschließend wurden 16 von ihnen für die nächste Förderperiode ausgewählt – unter ihnen die Gruppe aus Deutschland, an der neben Deborah Kronenberg-Versteeg auch die Forschungsgruppen von Dr. Thomas Wuttke vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und der Universität Tübingen sowie von Dr. Henner Koch von der Uniklinik an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen beteiligt sind. In den kommenden Monaten will das Team mit Hilfe des neuen Verfahrens die Gewebeschnitte von rund 120 Patientinnen und Patienten untersuchen.

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