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Demenz in Deutschland

Interview zu den aktuellen Zahlen

Nach aktuellen Schätzungen leben hierzulande rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenz. Forschende des DZNE haben diese Anzahl im Auftrag der Deutschen Alzheimer Gesellschaft (DAlzG) berechnet und mit weiteren Fakten zur Häufigkeit von Demenzerkrankungen in einem Infoblatt dargestellt. Demzufolge sind im Alter unter 65 Jahren mehr als 100.000 und im Alter ab 65 Jahren fast 1,7 Millionen Menschen an Demenz erkrankt. Prof. René Thyrian, der diese Daten gemeinsam mit Dr. Iris Blotenberg analysiert hat, ordnet die Situation ein.

Herr Thyrian, welche Daten haben Sie erfasst?

Im Rahmen der regelmäßigen Aktualisierungen der Informationen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft haben wir die Häufigkeit an Demenz erkrankter Menschen in Deutschland neu geschätzt. Wobei wir zwischen den verschiedenen Formen von Demenz nicht unterscheiden. Eine Aktualisierung bot sich jedenfalls an, da das Statistische Bundesamt vor wenigen Wochen die aktuellen Zahlen über den Bevölkerungsstand in Deutschland zum Stichtag 31.12.2021 veröffentlicht hat. Im Zuge der Aktualisierung haben wir auch, wenn möglich, aktuelle Informationen zur Zahl jüngerer Menschen unter 65 Jahren, der Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund, der Zahl der Menschen in den einzelnen Bundesländern und auch Bevölkerungsprognosen einfließen lassen.

Können Sie den Ansatz näher beschreiben?

Grob gesagt, haben wir einerseits die aktuellsten Bevölkerungsstatistiken und Bevölkerungsprognosen genommen und anderseits, aus der wissenschaftlichen Literatur, Daten zur sogenannten Prävalenz und Inzidenz von Demenz. Das sind Angaben zur statistischen Häufigkeit von Demenz innerhalb bestimmter Altersgruppen und zur Anzahl jährlicher Neuerkrankungen. Bringt man alle diese Informationen zusammen, lässt sich einerseits die aktuelle Zahl der Demenzerkrankungen abschätzen und sogar regional aufschlüsseln. Anderseits kann man Prognosen erstellen.

Und wie ist die aktuelle Situation? Die vorherigen Erhebungen galten für 2018. Welche Veränderungen haben Sie festgestellt?

Die Zahlen sind deutlich gewachsen. Wir sehen dafür verschiedene Ursachen. Zum einem steigt die Anzahl an Demenzerkrankungen infolge des demografischen Wandels. Denn der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung wächst und Demenz kommt im Alter besonders häufig vor. Infolgedessen gibt es tatsächlich mehr Betroffene. Auf der anderen Seite wird die Erfassung von Demenz besser. Gewissermaßen schauen wir immer genauer hin. So gibt es inzwischen bessere Daten zur Häufigkeit von Demenz unter jüngeren Menschen. Diese Daten sind in unsere Berechnungen eingeflossen und mitverantwortlich für den Anstieg der Gesamtzahlen. Bedauerlicherweise ist eine Demenz häufig immer noch mit Scham behaftet. Aber man hat den Eindruck, dass die Diagnose weniger stigmatisiert ist als noch vor wenigen Jahren. Die Menschen gehen früher zum Arzt und die Erkrankung wird auch früher erkannt. Sicher hat sich auch das Bewusstsein, die sogenannte Awareness, gegenüber Demenzerkrankungen auf Seiten der Pflegenden und im medizinischen System verändert. Insgesamt scheint sich die Verfügbarkeit von Diagnostik und die Akzeptanz zu verbessern. Alle diese Faktoren spielen bei der Entwicklung der Zahlen vermutlich auch eine Rolle.

Nach unseren Berechnungen ist im Norden und Osten Deutschlands der Anteil von Menschen mit Demenz an der Gesamtbevölkerung infolge des demographischen Wandels überdurchschnittlich hoch.
Prof. Dr. René Thyrian

Man geht ja davon, dass die Zahl an Menschen mit Demenz weltweit zunehmen wird. Wie ist Ihre konkrete Projektion für Deutschland?

Das ist eine spannende Frage. Unsere Schätzungen basieren auf verschiedenen Bevölkerungsprognosemodellen des Statistischen Bundesamts, die Hochrechnung erfolgte unter der Annahme stabiler Prävalenzraten. Nach unseren Berechnungen ist in den nächsten Jahrzehnten eine kontinuierliche Zunahme in der Anzahl der Menschen mit Demenz zu erwarten. Für 2050 gehen wir von 2,4 bis 2,8 Millionen Erkrankten aus. Diese Schätzungen vernachlässigen aber eventuelle Entwicklungen in der Prävention und Früherkennung oder Veränderungen in der statistischen Häufigkeit, wie sie teilweise schon in einzelnen Studien beschrieben werden. Auch Fortschritte in der Therapie sind nicht auszuschließen. Angesichts dieser vielen Unsicherheiten ist eine genaue Vorsage der langfristigen Entwicklung schwierig. Letztlich müssen wir aber von einem Anstieg ausgehen und unser Gesundheitssystem sollte sich darauf einstellen.

Sie haben auch die Häufigkeit von Demenz nach Bundesländern erfasst. Da gibt es durchaus regionale Unterschiede. Welche sind das und welche die Ursachen?

Nach unseren Berechnungen ist im Norden und Osten Deutschlands der Anteil von Menschen mit Demenz an der Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich hoch. Diese Unterschiede sind auf die regionale Bevölkerungsstruktur zurückführen und bilden den demografischen Wandel ab. Man erkennt, dass die verschiedenen Regionen verschiedene Entwicklungen durchmachen beziehungsweise durchgemacht haben. Informationen darüber sind relevant für unser Gesundheitssystem, denn die Versorgung von Menschen mit Demenz erfordert passgenaue Lösungen, die den regionalen Bedürfnissen gerecht werden. Nur so lassen sich Versorgungsstrukturen aufbauen, die die Betroffenen vor Ort erreichen. Die Regionen stehen dabei vor individuellen Herausforderungen. Deshalb untersuchen wir die Verbreitung von Demenz sogar auf Kreisebene. Diese feinteiligen Daten haben wir im aktuellen Infoblatt nicht aufgeführt, aber schon vor einiger Zeit an anderer Stelle veröffentlicht.

Sie gehen auch auf Demenz bei Menschen mit Migrationshintergrund ein. Warum dieses Thema? 

Wir haben diese Schätzung explizit aufgenommen, weil diese Bevölkerungsgruppe häufig nicht ausreichend wahrgenommen wird. Sie ist äußerst heterogen, weshalb es uns eigentlich widerstrebt, diese so vereinfacht darzustellen wie im aktuellen Infoblatt. An anderer Stelle haben wir daher viel differenziertere Analysen, sogar auf europäischer Ebene, vorgenommen. Aber die explizite Nennung im Infoblatt war uns ein Anliegen, da allein ein Migrationshintergrund ein Risikofaktor für eine schlechtere Gesundheitsversorgung ist – auch unabhängig vom Vorliegen einer Demenz. Der Zugang und die Verfügbarkeit von Gesundheitsleitungen ist bei vielen Menschen mit Migrationshintergrund schlechter. Hierfür sind vielschichtige Gründe verantwortlich und auch beschrieben. In der Versorgung an Demenz erkrankter Menschen kann es zum Beispiel allein aufgrund der im Rahmen der Demenz verlorenen sprachlichen Fähigkeiten zu Kommunikationsproblemen und damit Versorgungslücken kommen. Die „Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie“ hat unter unserer Leitung ein Schwerpunktheft herausgebracht, in dem dies ausführlicher und differenzierter betrachtet wird. Demenz ist also in vielerlei Hinsicht eine komplexe Aufgabe für unsere Gesellschaft und unser Gesundheitssystem.

Prof. Dr. René Thyrian ist Forschungsgruppenleiter am DZNE-Standort Rostock/Greifswald und Wissenschaftler am Institut für Community Medicine der Universitätsmedizin Greifswald. Er ist zudem ehrenamtliches Mitglied im Vorstand der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Frau Dr. Iris Blotenberg ist promovierte Psychologin und arbeitet als Postdoc-Wissenschaftlerin in der AG Thyrian.

 

August 2022

 

 

 

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