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Warum uns unser Gedächtnis manchmal täuscht

 

Emrah Düzel, 53, leitet das Institut für Kognitive Neurologie und Demenzforschung und die Gedächtnisambulanz der Uni Magdeburg und forscht am Deutschen Zentrum für Neuro­degenerative Erkrankungen und am University College London. 

AH: Lieber Emrah Düzel, wenn wir Erinnerungen an Erlebnisse abspeichern - wieviel speichern wir dann eigentlich? 
ED: Erstaunlich wenig. Angenommen, Sie sind eben in einen Raum hinein­gegangen. Wenn Sie die Augen schließen und sich das vorstellen, werden Sie keinen Film sehen, wie Sie den Raum betreten, sondern einzelne Momentaufnahmen. Da findet schon die erste Reduktion statt - das, was wir als Film erleben, wird im Gedächtnis auf Schnappschüsse herunter­gebrochen. Nach fünf Minuten sind es noch etliche Schnappschüsse. Aber eine Woche später ist das komprimiert auf einige wenige Bilder. Sobald eine Informa­tion in unser Gehirn gelangt, beginnt es, sie zeitlich zu komprimieren.

Und in einem Jahr erinnert man sich an das meiste gar nicht mehr. 
Es sei denn, es passiert etwas Außer­gewöhnliches.

Ein Aschenbecher beginnt zu brennen. 
In dem Fall würden später, im Schlaf, bestimmte Neurotransmitter wie Dopamin und Noradrenalin freigesetzt, wenn das Gehirn die Vorgänge des Tages noch einmal abspielt und die synaptischen Verbin­dungen festigt. Diese Neurotransmitter würden dafür sorgen, dass Ihnen dieser eine Moment noch lange in Erinnerung bleibt. Nun steht unser Gehirn aber vor einer großen Herausforderung. Angenommen, Sie saßen schon viele Male in jenem Raum - dann muss ihr Gedächtnis jenes besondere Erlebnis trennen von dem, was Sie vorher im selben Raum erlebt haben. Dafür braucht es Strukturen, die ähnliche Dinge voneinander separieren. Unsere Sehrinde zum Beispiel kann die ver­schiedenen Momente erst mal gar nicht trennen. Die Neuronen, die den Raum codiert haben, als der Aschenbecher brannte, und die Neuronen, die ihn die vielen hundert Male zuvor codiert haben, sind praktisch identisch. Doch im Hippo­campus, dem „Verwalter" unseres Gedächt­nisareals, findet etwas statt, was diese Repräsentationen voneinander trennt. Er sorgt dafür, dass wir getrennte neuronale Gruppen haben, die sehr ähnliche Dinge abspeichern. Die sogenannte Mustertrennung. 

Warum brauchen wir sie?
Angenommen, Sie treten in einen Raum, den Sie schon viele Male betreten haben. Sie kennen ihn - und müssen nicht in jeder Ecke nochmal neu gucken, wo was ist. Das wäre viel zu ressourcenintensiv. Um Ressourcen zu sparen, füllt unser Gedächtnis Informationen auf. So redu­zieren Sie die Informationen, die Sie brauchen, um diese Schnappschüsse zu erstellen. Vieles davon ist einfach Vor­wissen, das hineinprojiziert wird. 

Und das kann zu Fehlleistungen führen.
Genau. Diese Effizienz führt dazu, dass wir in manchen Situationen Dinge erinnern, die gar nicht stattgefunden haben. Unser Gedächtnis hat sie einfach mit reingebracht. Das ist der Preis der unglaublichen Effizienz unseres Gedächt­nisses. Man hat das in zig Experimenten untersucht. Einmal wurden Studierende in ein Professorenzimmer geschickt, in dem ein fast leeres Buchregal steht, und die Studierenden einige Stunden später gebeten, den Raum zu beschreiben. Die meisten sagten: Da stand ein volles Buchregal. Eben weil man annehmen kann, dass das Buchregal eines Professors voller Bücher steht. Es wäre sehr spei­cherintensiv, wenn unser Gedächtnis den Raum exakt so abspeichern würde, wie er ist. 

Bei jedem Aufrufen einer Erinnerung gerät unser Gedächtnis in einen labilen zustand. Sie können es mit einem Stück Wachs vergleichen: Jedes Mal, wenn Sie es erneut in die Hand nehmen, wird es weich und verformbar.
Prof. Emrah Düzel, Standortsprecher am DZNE-Standort Magdeburg

Was genau geht vor sich, wenn wir uns erinnern - wenn wir Gedächtnisinhalte wieder aufrufen? 
Auch das ist eine Quelle von Fehlern. Bei jedem Aufrufen einer Erinnerung gerät unser Gedächtnis in einen labilen Zustand. Sie können es mit einem Stück Wachs vergleichen: Jedes Mal, wenn Sie es erneut in die Hand nehmen, wird es weich und verformbar. Wir Hirnforscher nennen diesen Prozess Rekonsolidierung. Immer dann, wenn wir eine Erinnerung aufrufen, kann dieser Gedächtnisinhalt neu verknüpft werden. Das ist ein extrem sinnvoller Prozess, der aber auch dazu führen kann, dass sich solche Erinne­rungen über die Zeit verändern, dass man neue Dinge mit rein bringt und dann nach sehr langer Zeit nicht mehr trennen kann: Was ist jetzt eigentlich im Rahmen der Rekonsolidierung neu dazugekommen?

Warum ist es sinnvoll, dass Erinnerungen so „wachsweich" werden? 
Weil sich so frühere mit neuen Erfahrungen verknüpfen lassen. Weil ich dadurch Gelerntes mit neuem Wissen verknüpfen kann. Nehmen wir an, Sie fahren auf dem Weg zur Arbeit immer an einer Tankstelle vorbei. Aber eines Tages ist die Tankstelle abgerissen und nicht mehr da. Dann ist es sinnvoll, wenn Sie sofort lernen, dass die Tankstelle nicht mehr da ist - die Rekonsolidierung. Wenn Sie am nächsten Tag dort vorbeifahren, können Sie schon abrufen, dass die Tankstelle jetzt nicht kommt. Das Original-Gedächtnis wurde verändert. Der alte Inhalt ist nicht komplett gelöscht, nur verändert - rekonsolidiert. Das ermöglicht unserem Gedächtnis eine unglaubliche Flexibilität. 

Aber es ist doch gleichzeitig eine gewaltige Fehlerquelle. Auch dazu gibt es ja viele berühmte Experimente. Bei einem wurden 2000 Amerikanerinnen und Amerikaner in Abständen von 1 Jahr, 3 Jahren und 10 Jah­ren zu den Ereignissen des 11. September befragt. 40 Prozent der befragten Perso­nen änderten dabei ihre Erzählungen und gaben im Lauf der Jahre grundlegend andere Antworten. Ein Mann glaubte, auf der Straße gewesen zu sein, als er die Nach­richt von dem Anschlag hörte, war aber in Wirklichkeit in seinem Büro. Viele mischten das, was sie im Fernsehen gesehen hatten, in ihre Erinnerungen. Und wer einmal eine ungenaue, aber kohärente Erzählung ent­wickelt hatte, blieb dabei. 
Vermutlich war der Mann aus der Studie an beiden Orten, im Büro und auf der Straße, aber seine Erinnerung brachte es durcheinander. Man sieht an dieser Studie schön, wie fehlerhaft unser Gedächtnis ist - man hat es verglichen mit einem Wikipedia-Eintrag, der immer neu umgeschrieben wird, wobei eben auch viele Fehler hineinkommen. Eine Erinnerung, gerade an so ein bedeut­sames Ereignis, ist ja nicht isoliert in unserem Gedächtnis, sondern wird eng vernetzt mit dem, was wir sonst an Erinnerungen und mentalen Repräsen­tationen haben. Und diese Verknüpfung, die wird immer wieder neu ermöglicht. Immer wenn wir uns erinnern, kann man halt neue Verknüpfungen herstellen zwi­schen dem, was früher passiert ist, und dem, was wir heute wissen.

Werden Erinnerungen eigentlich zerlegt in unterschiedliche Sinneskanäle? Angenom­men, ich war in einem Fußballstadion - werden die Fangesänge, der Torschuss, der Bratwurstgeruch, die Hitze in unterschied­lichen Hirnregionen abgelegt? 
In der Tat brauchen wir die spezialisierten Hirnrinden, um die detaillierten Sinnes­eindrücke zu speichern, und dann müs­sen sie miteinander verknüpft werden. Wenn ich in der Berliner Philharmonie ein Konzert von Bruckner gehört habe, dann habe ich es ja in einer bestimmten Interpretation gehört, meinetwegen 
von Sir Simon Rattle. Wenn ich mich erinnere, will ich sehen, wie er da vorne steht und dirigiert, ich will den Hör­eindruck erinnern. Wir brauchen also Zonen, um diese entfernt liegenden Repräsentationen miteinander zu ver­knüpfen. Man nennt das auch „multi­modale Konvergenz". 

Kostet auch das wieder Präzision? 
Ja, tatsächlich. Diese Integrationszentren - wir nennen sie „Hubs" - sind gerade auch für Demenzerkrankungen anfällig. Die einzelnen Gedächtnisspeicher funktionie­ren noch relativ gut, aber weil die Hubs gestört sind, kann man nicht mehr darauf zugreifen.

Jetzt haben wir die ganze zeit über die Unzulänglichkeiten der Erinnerung geredet. Gibt es auch Experimente, die zeigen, wie gut sie funktioniert? 
Gerade hat mir ein Kollege aus Toronto ein Experiment gezeigt: Junge und alte Menschen wurden instruiert, einen Notfall zu simulieren. Sie mussten Gas­masken aufsetzen und lernen, wie man sich im Katastrophenfall verhält - und wurden acht Monate später gefragt, was genau sie gemacht haben. Und da hat sich herausgestellt, dass ihr Gedächtnis extrem genau war. Sie konnten sich an unglaublich viele Details erinnern. Zugleich wurden Gedächtnisexperten nach einer Einschätzung gefragt: Wie viel würden die Personen erinnern? Die Experten haben es völlig unterschätzt. Ihre Prognose blieb weit hinter dem zurück, was die Teilnehmenden sich alles gemerkt haben. 

Unsere Erinnerung funktioniert also doch.
Natürlich, sonst könnten wir ja gar nicht überleben. Aber es macht evolutionär Sinn, dass unsere Erinnerung allmählich verblasst. Wenn unser Gedächtnis extrem genau wäre, wir uns also alles so merken könnten, wie es passiert ist, würden wir verhungern. Weil wir den Akt des Essens komplett in unserem Gehirn abspielen könnten. Wir würden uns auch nicht mehr fortpflanzen, weil wir den Sex komplett rekapitulieren könnten. Wir bräuchten einfach nur in einer Höhle zu sitzen und wären glücklich. Deshalb muss unser Gehirn bestimmte Dinge antriggern, um uns zu motivieren, das Erlebte noch mal zu erleben. Aber es darf das Erlebte nicht komplett ersetzen.

Das Interview führte Ariel Hauptmeier für Das Gehirn: In Kunst und Wissenschaft, herausgegeben von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland.
Der Artikel ist als PDF verlinkt, mit freundlicher Gehnemigung der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland.

ISBN-10: 3777439363 | ISBN-13: 978-3777439365

Informationen zur Ausstellung in Bonn (19.5. - 19.6.2022) findet man hier.

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