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Interview

„Das größte Geschenk meiner Karriere“

Prof. Dr. Dr. Pierluigi Nicotera, Vorstandsvorsitzender des DZNE. Bild: Daniel Bayer

DZNE-Gründungsdirektor Pierluigi Nicotera über die Bilanz zum zehnten Jubiläum, über schmerzhafte Rückschläge – und darüber, welche Frage er im Small-Talk am häufigsten hört.

Herr Nicotera, vor genau zehn Jahren wurde das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) gegründet und ist seitdem gewaltig gewachsen: Heute haben Sie rund 1.200 Mitarbeiter aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen. Gibt es trotz aller Diversität eine Eigenschaft, die alle Forscher erfüllen müssen, die zu neurodegenerativen Erkrankungen arbeiten?

Ich denke schon: Erstens müssen sie die Physiologie des Gehirns verstehen; das ist eine hochkomplexe Sache. Und zweitens braucht man eine sehr gute Beobachtungsgabe, um die richtigen Schlüsse aus klinischen Studien oder aus epidemiologischen Beobachtungen zu ziehen. Das war schon immer so in unserem Bereich. Was ich aber besonders spannend finde, ist die Richtung, in die sich die Forschung entwickelt.

Hat sich da in den vergangenen zehn Jahren viel verändert?

Oh ja: Insbesondere Informationstechnologien spielen eine immer größere Rolle. Wir nutzen heute Big-Data-Management und Künstliche Intelligenz, um die komplexen Vorgänge im Gehirn zu modellieren und die enorme Menge an Forschungsdaten auszuwerten. Das sind wichtigste Entwicklungen und sie stellen natürlich neue Anforderungen an unsere Forscher. Und ein zweites Beispiel: Schon immer war die Neuropathologie eine Schlüsseldisziplin für die Erforschung der neurodegenerativen Erkrankungen. Dieses Feld entwickelt sich dank moderner Technik immer stärker in Richtung von molekularen Studien. Das hilft uns dabei, die individuellen Vorgänge in jedem einzelnen Gehirn besser zu verstehen.

Haben Sie nicht einen wichtigen Punkt vergessen, wenn es um die Gemeinsamkeiten der Forscher in Ihrem Gebiet geht?

Welcher sollte das sein?

Zum Beispiel die Fähigkeit, gut mit Enttäuschungen und Rückschlägen umgehen zu können.

Ah, Sie spielen auf den Wirkstoff Aducanumab an, zu dem eine klinische Studie von Pharmaunternehmen kürzlich eingestellt worden ist, oder?

Genau. Die Studie war schon sehr weit fortgeschritten, und weltweit richteten sich viele Hoffnungen auf diesen neuen Wirkstoff.

Ich glaube, dass Wissenschaftler in allen Forschungsbereichen mit Rückschlägen klarkommen müssen, das ist bei uns auch nicht so viel anders. Das ist einfach ein unabänderlicher Bestandteil von Forschung, so sehr mir auch die Patienten und ihre Familien leidtun, die bei dem aktuellen Fall auf ein neues Medikament gehofft haben.

Woran liegt es denn, dass gerade reihenweise Studien von möglichen Alzheimer-Medikamenten scheitern? Aducanumab ist ja kein Einzelfall.

Viele dieser Studien setzen an der gleichen Stelle an: Mit Hilfe von Antikörpern wollen sie das Amyloid-Beta bekämpfen, ein Schlüsselprotein in der Entstehung von Alzheimer. Und da gibt es zwei Probleme: Erstens ist es nicht besonders effektiv, im Gehirn mit Antikörpern zu arbeiten, weil da viele Nebenwirkungen auftreten können. Und zweitens wurden Patienten in alle diese Studien aufgenommen, die bereits erste Symptome der Alzheimer-Krankheit aufwiesen. Wir wissen heute aber, dass die krankhaften Prozesse im Gehirn schon mehr als ein Jahrzehnt früher beginnen – vielleicht kommen diese Therapien deshalb einfach zu spät zum Einsatz.

Was heißt das für die Forschung?

Das Hauptgebäude des DZNE in Bonn. Bild: Archigraphie Steffen Vogt

Wir arbeiten daran, im Körper neue Ziele für künftige Therapien zu identifizieren. Es geht also darum, Moleküle und Mechanismen zu finden, an denen Wirkstoffe ansetzen können. Ich bin da optimistisch, weil die Forschung immer neue Zusammenhänge in der Alzheimer-Entstehung entdeckt, und dadurch ergeben sich natürlich auch neue Ansatzpunkte für die Therapie. Ein solcher Ansatzpunkt sind möglicherweise entzündungshemmende Behandlungsstrategien. Denn in den letzten Jahren hat sich herausgestellt, dass das Immunsystem des Gehirns bei Alzheimer eine wichtige Rolle spielt. Und wenn es zum Beispiel gelingt, die Krankheit mit Hilfe von passenden Biomarkern früher zu entdecken, kann das ebenfalls ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Am Ende wird es wohl immer eine Kombination von Therapien sein, die bei jedem konkreten Patienten zum Einsatz kommt.

Wie häufig werden Sie gefragt, wann Alzheimer heilbar sein wird?

Das ist die Frage, die ich im Small-Talk am häufigsten gestellt bekomme. Ich antworte dann immer: Ich würde das Problem gern lösen, bevor ich selbst betroffen bin. Und weil ich jetzt 63 Jahre alt bin, müssen wir uns allmählich beeilen.

Woher nehmen Sie Ihren Optimismus, dass sich Alzheimer heilen lässt?

Schauen Sie auf andere Krankheiten: Wie lange hat es zum Beispiel gedauert, bis man wirkungsvolle Therapien gegen Krebs entdeckt hat? Die sind heute um Längen besser als in der Anfangszeit. Oder HIV: Früher war das eine hoffnungslose Diagnose, jeder Patient bekam automatisch Aids. Heute kann man die Krankheit unter Kontrolle behalten. Das wird bei den neurodegenerativen Erkrankungen ähnlich sein; Sie dürfen nicht vergessen, dass unser Forschungsgebiet noch recht jung ist.

Welchen Stellenwert nehmen Alzheimer und andere Demenzen bei der Arbeit des DZNE ein?

Alzheimer ist die neurodegenerative Erkrankung, die die größte Gruppe von Menschen betrifft, gefolgt von Parkinson. Häufig mischen sich allerdings verschiedene Krankheitsbilder, bei Demenzen etwa mit Krankheiten des Herz-Kreislaufsystems. Wir haben Experten für alle diese Felder, und die Verknüpfung halte ich für sehr sinnvoll: Einige neurodegenerative Erkrankungen haben gemeinsame Charakteristika, und es besteht die Hoffnung, dass wir mit einem Durchbruch auf einem Gebiet auch auf angrenzenden Feldern Fortschritte erzielen können.

Wenn Sie auf die zehnjährige Geschichte des DZNE zurückschauen – was ist Ihr Fazit?

Ich würde sagen, dass wir in diversen Bereichen einiges bewegen konnten. So haben unsere Wissenschaftler beispielsweise zum besseren Verständnis von Krankheitsmechanismen beigetragen und Biomarker identifiziert, die bei der Frühdiagnose und der Entwicklung neuer Therapien von Nutzen sein können. Darüber hinaus haben wir Maßnahmen entwickelt, die die Versorgung und Lebensqualität von Menschen mit Demenz deutlich verbessern können. Mich macht es stolz, mit so vielen tollen Wissenschaftlern zusammenzuarbeiten. Dieses Institut aufbauen zu können, an dem Forscher von zehn Standorten aus kooperieren statt zu konkurrieren – das war das größte Geschenk meiner Karriere. Und dass derzeit in mehreren Ländern wie Großbritannien, Australien oder Kanada Einrichtungen entstehen, die dezidiert eine ähnliche Struktur haben wie wir, bestätigt mich darin, wie richtig und wichtig die Vision war, die die Mitglieder unserer Gründungskommission hatten.

Gemeinsam gegen Demenz: 10 Jahre DZNE

Erforscher des Vergessens

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